Ich bin kein großer Freund von Superlativen in Theaterkritiken, eigentlich sollte die genaue Beschreibung des Gesehenen schon klarmachen, wie gut ein Abend war. Aber: „Welt ohne uns“ von Theaterensemble "Meine Damen und Herren", SKART und Masters Of The Universe auf Kampnagel - Internationales Zentrum für schönere Künste war eine der berührendsten Sachen, die ich seit langem sah.

Falk Schreiber / Hamburger Abendblatt via Facebook, Oktober 2021

 


Der Tod geht um auf Kampnagel – wegducken gilt nicht

Das Ensemble Meine Damen Und Herren ruft zum Performance-Totentanz: Was wird aus der "Welt ohne uns“?

Hamburg. Brian Wilsons Stimme schmeichelt sich durch die Kampnagel-Halle, harmonisch, lieblich. Aber was Wilson da singt, ist ziemlich verschattet: „I’m A Leaf On A Windy Day / Pretty Soon I’ll Be Blown Away / How Long Will The Wind Blow / Until I Die?“, ein Blatt tanzt im Wind, und bald ist es weggeweht. Was hier süßlich durch den Saal klingt, ist Todesahnung.

Mit der Performance „Welt ohne uns“ beschäftigt sich das inklusive Hamburger Theaterensemble Meine Damen Und Herren zum wiederholten Mal mit utopischen Konzepten, und diesmal fragt die Utopie: Was wird sein, wenn wir nicht mehr sind?
Das hängt auch mit der existenziellen Erfahrung der Corona-Pandemie zusammen, der Menschen mit Behinderung durch Vorbelastungen und die erhöhte Gefahr, schwer zu erkranken, besonders ausgesetzt sind. Aber gleichzeitig stellen Meine Damen Und Herren hier auch Fragen, die jeden betreffen – der Tod ist ein allgemeingültiges Phänomen. Und wegducken gilt nicht.
Theaterkritik: "Welt ohne uns" auf Kampnagel
Schon in früheren Arbeiten haben Meine Damen Und Herren die Dramenstrukturen nach und nach aufgelöst, jetzt – in Zusammenarbeit mit dem postdramatisch arbeitenden Duo SKART und dem altersgemischten Kollektiv Masters Of The Universe – gibt es praktisch überhaupt kein Stück mehr.

Stattdessen entwickeln die Performer Bilder, die näher an der Bildenden Kunst angesiedelt sind als am Theater. Nicht ohne Grund besteht der Beginn von „Welt ohne uns“ aus so genauen wie ausführlichen Beschreibungen des Bühnenaufbaus: hier eine Palme aus Wohlstandsmüll, dort ein Grabhügel, außerdem Heimorgeln, mit Schrauben verziert – das ist eine Rauminstallation, keine Theaterausstattung im engeren Sinne.

Berührende Momente, aber auch harter Stoff
Die Bilder, die hier aufgerufen werden, sind Traumbilder, mal besänftigend, mal verstörend. Ein lebloser Körper wird so mühe- wie liebevoll geschminkt, nur um sich gegen Ende wie aus einem tiefen Schlaf zu erheben. Eine vor Angst schreiende Gestalt wird über die Bühne geschleift. Ein männlicher Leib dümpelt in einer bräunlichen Flüssigkeit, um schließlich mit einer Art Flaschenzug in die Höhe gezerrt zu werden – da erinnert der Abend ein wenig an die hochgelobte Gewalt-Sexualität-Artistik einer Florentina Holzinger, was einen Hinweis darauf gibt, welches bühnentechnische Niveau Meine Damen Und Herren mittlerweile erreicht haben.

„Wer Angst vor dem Tod hat, wird sich nach diesem Stück darauf freuen“, kündigt der Programmzettel an, was nicht ganz korrekt ist. Ja, der Abend hat seine berührenden Momente, aber das Stück ist auch harter Stoff, bedrückend, grausam. Auf der Bühnenrückwand ist eine Collage zu sehen, Bilder von Todesritualen – Viren, Gerippe, mittendrin der mittelalterliche Kupferstich eines Totentanzes. Und vielleicht sagt dieses Bild etwas darüber aus, was der Reigen „Welt ohne uns“ über den Tod verrät, einen Tod, der gleichzeitig fröhlich sein kann und entsetzlich.

Falk Schreiber, Hamburger Abendblatt, Oktober 2021

 

 

Tod für alle

 

Auf Kampnagel startet das doppelt inklusive Stück „Welt ohne uns“
Nun ist es ausgesprochen unwahrscheinlich, dass die Brüder Grimm Inklusion und performative Künste im Sinn hatten, als sie die Erzählung vom „Gevatter Tod“ in ihre Märchensammlung schrieben. Sie wissen schon, die vom Sensenmann, „der alle gleichmacht“. Bestreiten lässt sich die Nähe aber kaum: zwischen Diskursen über Tod und Gleichberechtigung, zwischen ideellem Wert des Lebens und den ganz anderen herrschenden Realitäten.

„Welt ohne uns“ ist ein Theaterstück über den Tod und wird am heutigen Mittwoch seine Uraufführung auf Kampnagel erleben. Eine inklusive Produktion ist es gleich auf zwei Ebenen. Zum ersten Mal haben hier nämlich die Gruppen „Meine Damen und Herren“ (aus Theaterschaffenden mit und ohne Behinderung) und das altersübergreifende Kollektiv „Masters of the Universe“ (Motu) zusammengearbeitet.
Beide bringen Menschen auf die Bühne, die dort sonst in der Regel nicht angemessen repräsentiert werden. Einig sind sich beide Gruppen allerdings auch darin, dass das allein noch längst nicht reicht: Beide verstehen sich weniger als Sozialprojekte, denn als Kunstschaffende auf der Höhe der Zeit. So ist schon der Ansatz von „Welt ohne uns“ nicht nur durchdrungen von Performance- und Körperwissen, sondern reflektiert stets auch die Bedingungen der eigenen Entstehung.
Das ist fraglos ein Gewinn für die Darstellenden, aber sind solche Überlegungen auch interessant fürs Publikum? Vorsichtig prognostiziert: ja. Denn auch wenn vordergründig der Witz und die schon beim Vorgespräch überbordende Spielfreude der Ak­teu­r:in­nen im Mittelpunkt stehen (ganz zu schweigen von der meterhohen Eisstielpalme, einem Schlauchboot voller Schlamm, dem rituellen Essen der Totenasche oder der Tatsache, dass in dem modrigen Boot später auch noch gebadet wird) – entscheidender ist doch das angepeilte ­Abstraktionsniveau dieser Arbeit.
Es sei nie darum gegangen, sagt Mark Schröppel von Motu, „zu einer einheitlichen Todesreflexion zu finden“. Vielmehr sei über das gemeinsame Philosophieren, Spielen und die kollektive Stückentwicklung „ein gemeinsamer Erfahrungshorizont“ entstanden, aus dem sich die körperlichen Elemente entwickelt haben. Und der ist schwer zu fassen, aber doch auch von außen fühlbar. Und es ist Kopfarbeit: Der inklusiv und gruppenübergreifend besetzte „Regie Think Tank“ hat ­abstrakte Diskussionen in assoziative Bilder verwandelt und sich bewusst gegen Kitsch gestellt, gegen religiöse Vereinfachung oder esoterische Heilsgeschichten. Ob’s geklappt hat, sehen Sie ab heute Abend


Jan-Paul Koopmann, TAZ, September 2021

Powered by CouchCMS