Schlecht erzogen

 

Das Licht ist gedimmt, der DJ spielt psychedelische Musik. Ein als Sonne verkleideter Mann läuft durch den Saal und verteilt Radieschen. Auf dem Boden fläzen Menschen auf Perserteppichen, manche Zuschauer tragen Windeln. "Miseducating Munich", die Konzertreihe für Kinder und Erwachsene, hat in den Münchner Kammerspielen Premiere. Angekündigt worden ist "Musik abseits des Lehrplans", und gemeinsam mit der im Namen enthaltenen "Miseducation", einer fehlgeleiteten Bildung, ergibt die Veranstaltung eine Stunde subversive musikalische Früherziehung mit einer eindrucksvollen Performance des Manchester Musikers Paddy Steer, der als extraterrestrischer Roboter ausgerufen wird.

Steer spielt auf einem eigentümlichen Bühnenaufbau als Ein-Mann-Band Schlagzeug, Lap Steel Guitar, ein verstärktes Glockenspiel und Hand Percussions, bedient Synthesizer und gibt Weltraumgeräusche von sich. Das ergibt einnehmenden Krautrock, der genauso in einem Szene-Club gespielt werden könnte. In einem solchen hat auch Sebastian Reier, seit Herbst Verantwortlicher für das Musikprogramm der Kammerspiele, Peddy Steer entdeckt. "Er hat unter der Woche gespielt, kaum einer war da. Ich dachte mir, das ist so genial, das muss man doch wann anders spielen - für Kinder und Erwachsene", sagt Reier. Er selbst legt im Rahmenprogramm der Veranstaltung als DJ Booty Carrell auf. Die Verbindung sei auch sinnvoll, "weil Eltern einfach weniger ausgehen können, vor allem Alleinerziehende", sagt Reier.

Die Erwachsenen haben besonders viel Spaß, tanzen und begeistern sich für die launigen Moderationen von Mark Schröppel, dem sarkastischen Sonnenmann. Er ist Mitgründer der Performance-Gruppe Skart und dem dazugehörenden Kollektiv "Masters Of The Universe", das generationenübergreifende Theaterprojekte realisiert. Schröppel nimmt den etwas anderen Bildungsauftrag beim Wort und erklärt den Kindern, dass es egal sei, was für Instrumente Steer spiele - bei Musik gehe es nicht um Wissen, sondern um Gefühle. Neben musikalischem Snobismus wird auch das Klischee vom konsumierenden Rockmusiker aufs Korn genommen. Die Kinder seien "viel zu klein und zu clever" für Alkohol und Drogen, aber Schröppel hat ein alternatives Suchtmittel parat und verteilt nach dem Motto "live fast, die young mit Diabetes" Cola an die Kinder. Zwischen den Songs wird auch die überholte Kulturtechnik des Musikerbewerfens mit Lebensmitteln einstudiert, die eingangs ausgeteilten Radieschen prasseln auf Paddy Steer herab. Der antwortet darauf mit funkig-abgespacten Rocksongs, die laut und wild vorgetragen werden. Dem Sonnenmann ist zu wenig Bewegung im Saal: "Wer nicht tanzt, hat verloren, und den letzten holt die Bundeswehr", ruft er. Daraufhin fliegen Kleinkinder durch die Luft, Väter und Mütter schütteln ihr Haupthaar - der vermeintlich außerirdische Paddy Steer hat den Alltag kurz weggebeamt.

Süddeutsche Zeitung, Oktober 2020

Powered by CouchCMS